Schon mal überlegt, welche Faktoren beeinflussen, ob Sie eine Stadt mögen oder nicht? Die Atmosphäre, die Leute, das Wetter, das Essen, die Freizeitmöglichkeiten, das Transportsystem? Alles eher ungreifbare Dinge, von denen man beim kurzen Städtetrip jeweils nur eine kleine Stichprobe zu Gesicht bekommt. Daher spielt die Erwartung eine große Rolle. Rechnet man schon vor Ankunft mit lauter freundlichen Begegnungen, so wirkt das Lächeln der Dame in der U-Bahn plötzlich herzlicher, der Kerl, der hinter einem geht, scheint weniger gruselig und man ist eher bereit, das rüpelhafte Benehmen des Kellners als Ausnahme zu werten.
Der Gaul, der rechnen konnte
Völlig frei von solchen Auswirkungen der Erwartungshaltung sind auch Forschende nicht. In diesem Fall heißt die Verzerrung „Research Bias“ und sie kann Erkenntnisse substantiell beeinflussen. Das klassische Beispiel ist ein Pferd namens Kluger Hans, das Rechenaufgaben lösen und das Resultat durch stampfen kommunizieren konnte. Wie sich zeigte, hatte das Pferd die Fähigkeit entwickelt, der Körperhaltung und Mimik des Fragestellers abzulesen, wann genug gestampft sei. Hätte der Fragensteller die Antwort selbst nicht gekannt, so wäre auch der Gaul nicht auf die richtige Lösung gekommen. Besonders kritisch ist dieses Problem natürlich bei Forschung, die auf Experimenten mit Menschen basiert, etwa in der Verhaltens- oder Marktforschung, der Medizin oder Wirtschaft. Um zu verhindern, dass dem Subjekt eine Lösung suggeriert wird, ist es vorteilhaft, wenn der Forscher selbst im Dunkeln tappt. Konkret: Doppelblindstudie. Das ist jedoch nicht in jedem Zusammenhang möglich und ist mit größerem Aufwand verbunden.
Das Pferd nicht von hinten aufsatteln
Research Bias kann entstehen, wenn eigene Erwartungen auf andere übertragen werden, oder, wie im Städtebeispiel, wenn vorgeformte Erwartungen den eigenen Blick trüben. Beginnt man seine Paper mit einer wahrscheinlichen Schlussfolgerung im Kopf, ist es trotz bester Absichten leicht, bei der Literaturrecherche in konträren Erkenntnissen Designfehler zu erkennen, den eigenen Ausreißerfilter etwas mehr da oder dorthin zu schrauben und die Kontrollvariablen entsprechend zu wählen.
Für einige isolierte Probleme gibt es isolierte Lösungen. Variablen können mittels statistischer Tests auf ihre Bedeutung hin geprüft werden; für gewisse Fragestellungen existieren Listen von Dimensionen, in welchen Stichproben repräsentativ sein sollten; in Fragebögen können Kontrollfragen eingebaut werden; Interviewer können speziell geschult werden; Umfragen können anonymisiert werden; Open Access könnte dazu führen, dass Experimente mit verworfenen Thesen häufiger trotzdem veröffentlicht werden. An grundsätzlichen Lösungen kann ich hingegen nur jene vorschlagen, die mir nahe gelegt wurden, um mir das Nägelkauen abzugewöhnen: Es schlichtweg nicht mehr zu tun. Führen Sie sich so klar wie möglich vor Augen, welche vorgefassten Meinungen Sie haben und woher diese stammen. Nehmen Sie widersprüchliche Papers ganz besonders ernst. Sprechen Sie mit Kollegen über Ihre Arbeit und achten Sie gezielt auf Aussagen, die aus divergierenden Erwartungen resultieren könnten. Verzerrungen können lediglich minimiert, nicht vermieden werden. Je mehr Sie sich des Problems bewusst sind, desto eher können Sie der Verzerrung Herr werden. Und falls Sie sich fragen: Das Nägelkauen habe ich mir abgewöhnt. Fast.